Projekt-Teilnehmerin Shadia Al Jamili (Mitte) während des Workshops „Vom Weggehen, Ankommen und Verlassenwerden. Die Rattenfängersage als Migrationsgeschichte“ am 09. Novemer 2019 im Museum Hameln. Foto: Matthias Nordmeyer/Museum Hameln

Der Hamelner Rattenfänger auf Arabisch

Auch im arabischsprachigen Raum kennt man die sage vom Hamelner Rattenfänger. Projektteilnehmerin Shadia Al-Jamili, die seit drei Jahren in Hameln lebt, berichtet von ihrer Erinnerung an die Erzählung, mit der sie erstmals während ihrer Kindheit in Syrien in Berührung kam:

Als ich sechs Jahre alt war, habe ich die Rattenfänger-Geschichte als Fernsehfilm für Kinder gesehen. Damals dachte ich, dass sie reine Fantasie sei.
Als der Krieg in Syrien begann, bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Zuerst habe ich in der Nähe von Berlin gelebt. Als ich Nachricht von meiner Schwester bekam, dass sie in Hameln lebt, habe ich mich entschieden, nach Hameln umzuziehen.
Als ich in der Hamelner Altstadt spazieren ging, sah ich den Flötenspieler und die Leute, die ihm folgten. Ich war sehr überrascht, dass die Rattenfängersage anscheinend eine wahre Geschichte ist.
Ich fühlte mich wieder wie als Kind, als ich im Haus meiner Familie das Fernsehprogramm gesehen hatte. Das war ein tolles Gefühl!
Außerdem gefällt mir, wie die Hamelner ihre historischen Feste zur Sage feiern. Es ist, als ob die Geschichte jeden Tag passiert.

Die Sage auf Arabisch

Viel ist nicht über die Verbreitung der Rattenfängersage im arabischsprachigen Raum bekannt. Auf Youtube finden sich verschiedene Animationsfilme auf Arabisch, die zum Teil sehr hoch frequentiert sind. In der Sammlung des Hamelner Museums befinden sich vier arabische Kinderbücher zum Hamelner Rattenfänger, die im Libanon verlegt wurden. Darin wird er stets als Flötenspieler oder Musiker bezeichnet – aber niemals als Rattenfänger. Die Geschichte ist anscheinend besonders für Kinder beliebt, da sich sowohl Bücher als auch verschiedene Animationsfilme speziell an diese Zielgruppe richten. Eine eigenständige arabische Erzähltradition der Rattenfänger-Sage ist nicht erkennbar. Es scheint sich bei vielen Büchern, um Übersetzungen englischer Exemplare zu handeln.

Arabisches Kinderbuch aus der Sammlung des Museums Hameln. Die rot-gelbe Kleidung des Pfeifers verweist auf die englische Tradition.

Dies ist eindeutig am gelb-roten Gewand des Flötenspielers zu erkennen. Diese Farbgestaltung und der „lahme Junge“, der aufgrund seiner Beeinträchtigung zurückbleibt, gehen auf die englischsprachige Rattenfänger-Tradition zurück. Diese fand durch ein Gedicht des bekannten britischen Literaten Robert Browning sehr weite Verbreitung.

Und die Moral von der Geschicht’…

Trotzdem findet sich unter den Animationsfilmen eine interessante, wahrscheinlich kulturspezifische Interpretation, was die Moral der Sage angeht: Wie in vielen spanischen Versionen endet auch diese arabische Variante der Sage positiv. Nachdem der Bürgermeister verspricht, zukünftig sein Wort zu halten, gibt der Flötenspieler den Hamelner*innen ihre Kinder zurück. Zusätzlich belehrt er sie aber noch, dass die Stadt so unsauber sei, dass das Ungeziefer und die Ratten sicher zurückkommen und die Hamelner*innen ihre Kinder früher oder später an Krankheiten verlieren würden. Daraufhin versprechen Bürgermeister und Bürger*innen, ihre Stadt zukünftig sauber zu halten. Der Rattenfänger tritt hier eher als Pädagoge auf, der den Bürgern der Stadt den Weg in eine bessere, moralischere und sauberere Zukunft weist – letztere Tugend wird in der arabischen Kultur sehr hoch gehalten.

Nach der Pfeife von Politikern tanzen

Aber nicht nur in der Kinderliteratur und Kinderfilmen ist die Figur des Flötenspielers bekannt, nach dessen Pfeife alle tanzen. Für die politische Interpretation, die besonders in Karikaturen des 19. und 20. Jahrhunderts vorkommt, finden sich auch arabische Beispiele. So existiert zum Beispiel eine ägyptische Karikatur aus dem Jahre 1974, die den amerikanischen Außenminister Henry Kissinger als Rattenfänger zeigt, dem drei ägyptische Männer folgen, andere sich wiederum abwenden.

Diese ägyptische Karikatur vom 18. Dezember 1974 mit dem Titel „We listen to him, but we choose our own path!“ aus der Time ist Wolfgang Mieders „Die Sage in Lietartur, Medien und Karikaturen“ (2002) entnommen.

Mäuse aus Aleppo vertrieben

Zuletzt sei noch erwähnt, dass aus dem syrischen Aleppo eine Mäusevertreibungssage überliefert ist. Protagonist ist der bekannte arabische Gelehrte Avicenna (ara. Ibn Sina), um dessen Leben und Wirken sich viele Sagen ranken. Zwar weist diese Geschichte motivisch nicht viele Ähnlichkeiten mit der Rattenvertreibungssage auf, die sich im 16. Jh. mit der Erzählung vom Kinderauszug verquickte. Diese arabische Sage ist jedoch ein treffendes Beispiel, wie universell menschliche Erfahrungen in unterschiedlich kulturellen Ausprägungen Eingang ins traditionellen Erzählgut finden.

„In der Stadt Aleppo gab es einen König. Da es in der Stadt nur so von Mäusen wimmelte, beschwerten sich die Einwohner jeden Tag. Eines Tages, als der König sich mit Avicenna unterhielt, kamen sie auf die Mäuse zu sprechen. Der König sprach: „Mein lieber Avicenna, alle beschweren sich wegen der Mäuse. Ich wünschte, wir würden eine Lösung finden, sodass alle zufrieden sind. Avicenna antwortete: „Ich werde dafür sorgen, dass nicht eine einzige Maus in der Stadt bleibt. Es gibt nur eine Bedingung: Du sollst am Stadttor stehen und was auch immer passiert und was auch immer du sieht, du darfst nicht lachen.“ Der König stimmte zufrieden zu. Sofort gab er Anweisung, dass man sein Pferd vorbereite, sodass er unverzüglich zum Stadttor reiten könne. Avicenna für seinen Teil stand in der Straße, wiederholte einen Zauber und rief die Mäuse zusammen. Eine der Mäuse kam zu ihm. Er fing sie, tötete sie und legte sie in einen Sarg, der von vier Mäusen getragen wurde. Dann wiederholte er den Zauber und schlug die Hände zusammen. Daraufhin begannen die Mäuse langsam zu marschieren. Und alle Mäuse, die in der Stadt wahren, beteiligten sich an diesem Leichenzug, sodass die Straßen voll von ihnen waren. Sie kamen an das Tor, an dem der König stand. Einige befanden sich vor, andere hinter dem Sarg. Und als der König hinab schaute, sah er die Mäuse mit dem Sarg auf ihren Schultern, und außer Stande zu widerstehen, begann er, zu lachen. Sobald sein Lachen ertönte, starben alle Mäuse, die sich bereits außerhalb der Stadt befanden. Alle, die sich noch vor dem Stadttor befanden, liefen auseinander und zerstreuten sich in alle Richtungen innerhalb der Stadt. Avicenna sprach: „Oh König, wenn du meinem Ratschlag gefolgt wärst und nicht gelacht hättest, würde es nun keine einzige Maus in dieser Stadt geben. Alle hätten die Stadt verlassen und wären gestorben und alle Menschen wären zufrieden gewesen.“ Da bereute der König, dass er gelacht hatte. Aber was konnte er tun? Zu späte Reue bringt niemandem etwas.“

(nach Sheykh-Zada: The Lady’s Twenty-Eighth Story, in: The History of the Forty Vezirs or, translated by E. J. W. Gibb, London: George Redway, 1886, pp. 300-302.)