Das Projekt-Team mit Gernot Hüsam vor der Teufelsküche bei Coppenbrügge. Foto: Hans J. Köhler

Exkursion nach Coppenbrügge

Bereits die frühen Quellen zur Rattenfängersage nennen den Ort, an dem am 26. Juni 1284 130 Hamelner Kinder im Gefolge eines buntbekleideten Pfeifers verschwunden sein sollen: Die Lüneburger Handschrift spricht um 1430/1450 vom „locum Caluarie“, was so viel wie Hinrichtungs- oder Schädelstätte bedeutet. Die historischen Merkverse nennen in einigen Versionen die Orte „Calvarie bi den Koppen“ – so z.B. die Inschrift am Rattenfängerhaus von 1602/03. Dennoch sind sich Gelehrte, Heimatforscher und Wissenschaftler bis heute nicht einig, auf welche realen Orte sich diese Bezeichnungen beziehen.

Gernot Hüsam, ehemaliger Lehrer und Heimatforscher, meint, die Antwort gefunden zu haben. Er gehört zu den Vertretern der sog. Katastrophentheorie. Diese geht davon aus, dass der Erzählung vom Kinderauszug ein außergewöhnliches Unglück zugrunde liegen müsse. Andernfalls  hätte sich die Erzählung bis zur schriftlichen Fixierung nicht so lange im kollektiven Gedächtnis erhalten. Da neben der Katastrophe der Grund für den Kinderauszug begründet werden muss, ist die Katastrophentheorie stets eine Doppeltheorie. In diesem Falle wird das Unglück von der Annahme begleitet, dass die Hamelner Tanzjugend um den Johannistag herum (24. Juni) auf den Kamm des Ith-Gebirges zog, um dort heidnische Rituale abzuhalten. Gernot Hüsam geht davon aus, dass die Spiegelberger Grafen, die um 1281 Land in Coppenbrügge erwarben und gemäß einer Sage für die Durchsetzung christlicher Tugenden – mitunter auch durch Gewalt ­­–  bekannt waren, die frevelnde Jugend beseitigt haben könnten.

Museum in der Burg Coppenbrügge

In der zwischen 1280 und 1300 erbauten Burg der Spiegelberger Grafen befindet sich heute ein ehrenamtlich betriebenes Museum. Das Ja-Wort kann sich hier auch gegeben werden.

Da Coppenbrügge (man beachte die Namensähnlichkeit mit dem Ortsbezeichnung „Koppen“) nur einen „Puchsenschuss“ von Hameln entfernt liegt, hat sich das Projekt-Team von Pied Piper International am Samstag, den 17. August auf den Weg zur Museumsburg begeben, um sich die Orte von Herrn Hüsams Theorie einmal genauer anzuschauen. So wurden wir am Samstagmorgen persönlich von ihm vor der Burg der Spiegelberger Grafen empfangen. Das Wappen der Grafen zu Spiegelberg zeigt u.a. zwei Hirsche als Wappentier sowie einen Baum. Eine der wichtigsten Quellen, auf die sich Herrn Hüsams Theorie stützt, ist die älteste bildliche Darstellung des Rattenfängers aus dem Jahr 1592. Laut Hüsam deuten die drei Hirsche vor den Bäumen im Zentrum des Aquarells auf die zentrale Rolle der Spiegelberger Grafen im Sagengeschehen hin.

Aquarell, Mörsperger Chronik, 1592

1592 lies der Elsäßer Freiherr und Ordensritter Augustin von Mörsperg dieses Aqurell anfertigen. Fensterbilder, die er als Reisender in Hameln gesehen hatte, dienten ihm als Vorbild. Heute gilt das Aquarell als älteste Darstellung des Hamelner Rattenfängers. Einige Forscher, wie Gernot Hüsam, gehen davon aus, dass die Bildsprache verschlüsselte Hinweise auf das Geschehen des 26. Juni 1284 enthält. Das Original befindet sich in der Landesbibliothek in Sondershausen, Thüringen.

In der derzeitigen Sonderausstellung der Museumsburg „Sagenhafter Ith“ sind zentrale Punkte von Herrn Hüsams Theorie ausgestellt. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei ein Planet-Wissen-Beitrag zum Hamelner Rattenfänger empfohlen, in dem er seine Deutung zum Kinderauszug vorstellt.

Nach Besichtigung des Museums in der Burg ging es dann weiter zur Teufelsküche, einer schädelförmigen Senke (locum calvaria = Schädelstätte) auf halber Höhe des Fahnensteins im nördlichen Ith-Kamm. Gemäß Hüsam befand sich dort ein heidnisches Heiligtum, das dem Wodan geweiht war. Er geht davon aus, dass diesem dort bis ins 13. Jh. gehuldigt wurde, was den Grafen von Spiegelberg ein Dorn im Auge gewesen sein könnte.

An dieser Stelle sei auf ein informatives Podcast-Projekt hingewiesen, in dem Sagen des Iths durch Lars Eickstätt vertont und kostenfrei zur Verfügung gestellt wurden. Dort findet sich auch ein entsprechender Beitrag zur Teufelsküche. Wer sich darüber hinaus zu Herrn Hüsams Theorie einlesen möchte, findet im Anschluss an diesen Beitrag eine Literatur-Liste.

Das Projekt-Team von Pied Piper International bedankt sich bei Herrn Hüsam für diesen spannenden Vormittag und vor allem dafür, dass er uns wieder lebend aus der Teufelsküche hinausgeführt hat.

Literatur-Tipps:

Hüsam, Gernot: Das Aquarell aus der Mörsperger Reisechronik, in: Museumsverein Hameln, Jahrbuch 1996, S. 26-36.

Hüsam, Gernot: Der Begriff „Calvaria“ in der Rattenfängersage, in: Museumsverein Hameln, Jahrbuch 1995, S. 59-72.

Hüsam, Gernot: Das Reimgebet im Hamelner „Passionale“, in: Museumsverein Hameln, Jahrbuch 1994, S. 41-49.