Darstellung eines Lokators im Heidelberger Sachsenspiegel, Bildnachweis: commons.wikimedia.org

Die Deutsche Ostkolonisation als Lösung?

von Elke Struck

Seit Jahrhunderten hat viele Menschen die Frage beschäftigt, wohin die hämelschen Kinder verschwunden oder entführt sein könnten. Dabei ist entscheidend zu wissen, dass die Ratten erst im 16. Jahrhundert zu der Geschichte hinzugefügt wurden.

Auf Grund von Klimaveränderungen, daraus folgender Überbevölkerung, neuen Rechtssystemen (Sachsenspiegel) und u.a.neuen Güterteilungen wurden viele junge Leute zur Auswanderung gezwungen. Als Herzog Konrad von Masowien 1230 gegen heidnische Stämme einen Hilferuf an seine deutschen Nachbarn erließ und ihnen das eroberte Land versprach, schien eine Auswanderung die Lösung aus der Krise, die 1241 durch die schweren Mongoleneinfälle bis vor Lignitz und Breslau und die damit entstandenen Verwüstungen noch verstärkt worden war.

Viele deutsche Landesherren ergriffen gerne diese günstige Gelegenheit, im Osten von Elbe und Oder ihr Gebiet zu vergrößern und sandten Werber aus, die in ihrem Auftrag Neusiedler anwarben, junge Leute, die für sich zuhause keine Zukunft mehr sahen. Diese Werber, sog. Lokatoren, durften ausnahmsweise bunte Kleidung tragen, was in der strikten mittelalterlichen Kleiderordnung sonst nicht vorgesehen war und was sehr auffiel, wenn sie mit ihren Musikinstrumenten – Pfeifen, Trommeln, Drehorgeln, Tröten – über Land zogen, um sich Gehör zu verschaffen. Einen aufgesetzten Siedlungsvertrag brachten sie häufig gleich mit.

oben: Ein Lokator mit auffallendem Hut erhält von seinem Grundherrn – durch ein grünes farbiges Gewand als höherer Stand erkennbar –  die Siedlungsurkunde. Die Neusiedler roden mit den vom Lokator bereit gestellten Geräten das neue Siedlungsland und bauen Häuser.

unten: Der Lokator sitzt als Richter vor einer offenbar neu erbauten Kirche und befragt Zeugen ( Schwurfinger).  Recht wurde üblicherweise vor der Kirchentür (weltlicher Bereich) gesprochen. Angeklagt scheint der links Außenstehende zu sein, genauso in Grün gekleidet wie einer der Zeugen. Handelt es sich um einen Streit zweier Grundherren? Man beachte die nicht sehr übliche dreieckige Form des Urkundensiegels: so eines führten die Grafen von Spiegelberger ab 1281.

Man schätzt, dass etwa 1 Million von ca. 3 Millionen Einwohnern aus dem deutschsprachigen Gebiet auswanderten, besonders aus dem Rheinland und dem Weserberglandgebiet, wo die Brüder Nikolaus und Herrmann von Spiegelberg, Grafen aus Coppenbrügge ( 15km östl. von Hameln), der Graf Otto von Everstein aus Polle (30km südl.von Hameln) und Graf Gerhard von Alfeld ( 50km süd-östl. von Hameln) als Lokatoren zwischen 1282 und 1284 bei Nikolaus von Spiegelbergs Onkel, dem Grafen von Stettin, nachweisbar sind.  Dabei durchquerten sie  das schon Otto von Everstein gehörende Gebiet bei Naugard und  Kolberg an der Ostsee.  Nikolaus von Spiegelberg  ist zuletzt am 8. Juli 1284 in Stettin nachweisbar, also 12 Tage nach dem dem Verschwinden der Kinder aus Hameln. Danach verliert sich seine Spur.

Darstellung Brunos von Schaumburg, Holzstich, 1593; Bildnachweis: commons.wikimedia.org

Als Fürstbischof trägt Bruno als Zeichen seiner geistlichen Gewalt links einen Bischofsstab, rechts das Schwert als Zeichen seiner weltlichen Gewalt. Das Schaumburger Wappen über ihm zeigt noch nicht die heutige, sondern deutlich die alte Nesselblatt Darstellung für den Nesselberg, auf dem die Schaumburg liegt. Man erkennt sogar die Stacheln der Brennnessel. Auf seinem bestickten Handschuh ist jedoch schon die Schaumburger Rose dargestellt.

In Koppahn, (poln. Darlowo. dt. Koppahn  wohl aus dem slaw. Wort für „ Hügel“), seit 1223  Johanniterhof bei Rügenwalde, gingen  Einschiffungen ins Ordensland  Richtung  Ostpreußen los. Etwas weiter östlich, in Stolpmünde (poln .Ustka) ist auch der brandenburgische Drost Burchard Gruelhut nachweisbar, ein Enkel des 1284 in Hameln amtierenden Bürgermeisters Gruelhut.

Außerdem war Graf Bruno von Schaumburg (15km westl. von Hameln)von König Ottokar von Böhmen extra als Bischof von Olmütz (Mähren) eingesetzt worden, um das Land dort nach den Mongoleneinfällen zu christianisieren und wieder aufzubauen. 16 namentlich bekannte Adlige aus dem Hamelner Raum zogen mit ihren Angehörigen  mit. Bischof Bruno  gründete dort in Mähren an der Grenze zu Ungarn über 200 neue Dörfer.

Es ist also sehr deutlich belegbar, dass intensive Beziehungen zwischen dem unmittelbaren Hamelner Raum und der Ostkolonisation bestanden.Vielleicht haben sich da die Hamelner „Kinder“ – die nach der lateinischen Bedeutung des Wortes „puer“ eher „Jugendliche“ oder auch „Knechte“ waren – eingereiht.