Darstellung der Rattenvertreibung durch den bekannten japanischen Illustrator Takeo Takei in einem Kinderbuch von 1966 aus der Sammlung des Museums Hameln. Quelle: Shibano, Tamizô: Hamerun no fuefuki, 1966, Inv.-Nr. 37381.

Einblicke von der Stadtführerin Eiko M. Sartor

Es war vor 34 Jahren, als ich die Geschichte vom “Rattenfänger von Hameln“ zum ersten Mal gehört habe. Ein Deutscher, den ich in China im Auslandsstudium kennengelernt hatte, hatte sich mir so vorgestellt: “I am from Hameln in Germany, the “Pied Piper“ Town“. Diese Sage hatte ich bis dahin noch nie gehört.

Von Märchen in Japan

Die Märchen der Brüder Grimm sind auch in Japan sehr berühmt und werden von japanischen Kindern geliebt. Was mich betrifft, so hat mein Großvater mir als kleines Kind die Märchen der Brüder Grimm genauso oft wie japanische Standardmärchen erzählt. Sie waren fast alle wie die Geschichten der Prinzessinnen in “Schneewittchen“, “Aschenputtel“ oder “Dornröschen“. Mein Vater hat mir gerne “Rotkäppchen“ erzählt. Immer wenn er an die Textstelle “Großmutter, warum hast du für ein entsetzlich großes Maul?“ – “Damit ich dich besser fressen kann“ kam, habe ich vor Lachen geschrien, das war eine Art Zeremonie vor dem Schlafengehen für mich.

Kein Happy End

Die Geschichten, in denen die braven und hübschen Prinzessinnen die Mädchen zum träumerischen Happy-End verlockten, passen zu unschuldigen Kindern. “Der Rattenfänger von Hameln“ ist dagegen düster und hat einen etwas schlechten Nachgeschmack. Besonders das Ende, wo die Kinder vermisst werden, mag Eltern und Großeltern zögern lassen, ihren geliebten Kindern die Geschichte zu erzählen.

Eiko M. Sartor (Mitte) während des Workshops „Vom Weggehen, Ankommen und Verlassenwerden. Die Rattenfänger-Sage als Migrationsgeschichte“ am 9. November im Museum Hameln. Foto: Matthias Nordmeyer, © Museum Hameln.

Grimm’sche Märchen auf dem Rückzug?

Als Stadtführerin treffe ich oft japanische Reisende, die sich nach den Märchen der Brüder Grimm und der Märchenstraße sehnen. Es sind meistens über 40-jährige Frauen. Während heute japanische Kinder eher moderne japanische Kinderbücher vorgelesen bekommen, haben die älteren Japaner viel mehr Zeit mit Grimms Märchen verbracht.

Zeitgenössische Sagenformen in Japan

Ich habe einmal im Internet nachgeschaut, wie “Der Rattenfänger von Hameln“ in Japan aufgefasst wird, und ziemlich gute Suchergebnisse gehabt. Es gibt eine Menge Romane, Manga (Comics), Zeichentrickfilme und Spiele, die Motive der Rattenfängersage aufgenommen haben. Viele sind Kriminalromane über Kindesentführung. Manga, Zeichentrickfilme und Spiele über die Ausrottung der Ratten gibt es auch in großer Zahl. Manga und Zeichentrickfilme für Kinder stellen oft den Rattenfänger oder die Ratten extra komisch dar und bringen sie so zum Lachen.

Rattenfänger kindgerecht

Viele Kinderbuch-Versionen vom “Rattenfänger von Hameln“ in japanischer Sprache ändern heute das Ende zum Happy-End: der Bürgermeister denkt über seine Tat nach und gibt dem Rattenfänger den versprochenen Lohn, dann werden die Kinder friedlich befreit. In einer anderen Ausgabe bleibt das Ende genauso wie in der Sage, aber am Schluss wird hinzugefügt; “Die Kinder wurden in ein glückliches Land ohne Lügner gebracht.“

Die abgebildete Paradiesszene lässt einen Einfluss der englischsprachigen Rattenfänger-Tradition à la Robert Browning vermuten. Der britische Autor beschreibt 1843 in einem Gedicht, wie die Kinder in einem Berg verschwinden, in dem sich ein „wunderbares Land“ befinde. Illustration: Takeo Takei, Inv.-Nr. 37381 Museum Hameln

Leben in Hameln

Der Deutsche vom Anfang dieses Eintrags ist vier Jahre später mein Mann geworden. Durch ihn bin ich in die Rattenfängerstadt Hameln gekommen. Hier lebe ich nun, ohne es erwartet zu haben, in einer schönen Stadt ohne das Entsetzen der Sage. Seine alten herrlichen Gebäude aus der Zeit der Weserrenaissance faszinieren Touristen aus aller Welt. Dank der Freundlichkeit der Menschen, die mich umgeben, kann ich glücklich in dieser kleinen Stadt leben, die mir früher ganz fremd war. Dazu habe ich viele schöne Erinnerungen, wie mir von fremden Menschen in der Stadt geholfen wurde. Die Geschichte der Wohltat gefällt mir besser als die der Rache. Ich freue mich, dass ich der Rattenfängerstadt Hameln meine Dankbarkeit durch die Mitarbeit an diesem Projekt ein bisschen erweisen kann.